Europa-Special
Fokus auf US-Politik birgt Chance für Europa
Fachartikel von Carsten Mumm, Chefvolkswirt Donner & Reuschel AG
Die Wertentwicklung europäischer Aktienindizes fiel im bisherigen Jahresverlauf im Vergleich mit US-Indizes, die bis Ende 2024 angetrieben durch die „glorreichen sieben“ Technologieaktien das Maß aller Dinge waren, deutlich besser aus – nicht nur weil DeepSeek im Januar die bisherige KI-Welt durcheinanderwirbelte.
Vielmehr gerät das Narrativ vom „schwachen Europa“ und den „starken USA“ aufgrund der erratischen und immer stärker autokratischen Politik der neue US-Regierung unter Präsident Donald Trump ins Wanken. Man muss konstatieren, dass die Attraktivität der US-Volkswirtschaft aufgrund politischer Unberechenbarkeiten, Zweifeln an der Standhaftigkeit amerikanischer Institutionen und abnehmender Rechtssicherheit zuletzt deutlich abgenommen hat.
Europa hat kann sich in diesem Kontext als Hort der Stabilität, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit positionieren und damit ein Gegenmodell zu den weltwirtschaftlichen Schwergewichten USA und China anbieten. Dafür braucht es allerdings Strukturreformen, wie sie in Deutschland schon lange diskutiert werden. Es geht vor allem um geringere Energiepreise und Lohnnebenkosten, die Stärkung des Arbeitskräftepotenzials, den Abbau von Bürokratie und die Beschleunigung von Verfahren, um die Voraussetzungen für unternehmerisches Handeln zu verbessern. Konkrete Handlungsvorschläge liegen seit Sommer 2024 in Form des Berichts zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi vor. Tatsächlich konkretisieren sich zunehmend entsprechende Vorhaben, unter anderem in Form einiger, in die richtige Richtung weisender Aspekte aus dem Koalitionsvertrag der neuen deutschen Bundesregierung. Auch notwendige staatliche Investitionen zur Ertüchtigung der Infrastruktur und der Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit sind absehbar.
Selbst beim Manko der fehlenden Einigkeit innerhalb Europas gibt es positive Signale, zumindest in Form eines „Europa der Willigen“ auf Initiative des britischen Premierministers Starmer und des französischen Präsidenten Macron zur stärkeren Unterstützung der Ukraine. Die weniger verlässliche Partnerschaft zu den USA erzwingt förmlich die Emanzipation Europas und dürfte auch dazu beitragen, dass die Europäische Union und Großbritannien künftig wieder enger zusammenrücken, wirtschaftlich und wohl auch militärisch.
Nicht zuletzt hat Europa den Vorteil, einer deutlich niedrigeren Inflation und in der Folge stärker sinkender Leitzinsen im Vergleich zu den USA. Die jüngste deutliche Aufwertung des Euro verstärkt diesen Aspekt zusätzlich und hat zusammen mit deutlich günstigeren Bewertungen europäischer Aktien dazu beigetragen, dass sich internationale Investoren wieder verstärkt europäischen Börsen zuwenden.
Würde jetzt noch der Ukrainekrieg unter akzeptablen Bedingungen enden, wäre der neue Blick auf Europa fast perfekt und die Chance auf eine anhaltend höhere Wachstumsdynamik und damit eine längere Outperformance europäischer Aktien noch größer.

Carsten Mumm, CFA, ist Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel. Zudem verantwortete er den Bereich Asset Management und arbeitete bis zur Fusion mit Reuschel & Co. langjährig als Leiter Portfoliomanagement bei Conrad Hinrich Donner. Der gelernte Bankkaufmann und studierte Diplom-Volkswirt ist seit 2006 CFA-Charterholder sowie engagiertes Mitglied der CFA Society Germany.